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Leben und Gestalt

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Richard Neutra (1892-1970) muss die Maxime des griechischen Philosophen Sokrates geschätzt haben, die besagte: "Das ungeprüfte Leben ist nicht lebenswert". Denn er hat sie lebenslang befolgt. In seinen Büchern, Artikeln, Vorträgen, seiner Korrespodenz und selbst im beiläufigen Gespräch prüfte Neutra immerfort nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch jenes anderer - historischer und zeitgenössischer - Menschen und die vom Menschen gestaltete und natürliche Welt, die sie bewohnten. Dies wurde nirgends deutlicher als in seiner Autobiografie "Leben und Gestalt", die 1962 (unter dem Titel "Auftrag für morgen") veröffentlicht wurde und heute, nachdem sie viele Jahre lang vergriffen war, glücklicherweise zu neuem Leben erwacht ist. Im Gegensatz zu "Wenn wir weiterleben wollen" (1954), seiner exzellenten Sammlung dichter philosophischer Essays, verlieh Neutra seiner Autobiografie einen leichteren und entspannteren Duktus. Es scheint, als ob der üblicherweise erntshafte und konzentrierte Neutra es sich hier erlaubte, seinen reichen Sinn für Ironie und Humor zu offenbaren und Teile seines persönlichen Erfahrungsschatzes zu sondieren, mit denen er sich zuvor noch nicht in dieser Tiefe befasst hatte. Dazu gehörten bislang unveröffentlichte Erinnerungen an seine Eltern, Geschwister und seine Kindheit im Wien der Kaiserzeit, seine abstumpfenden Erfahrungen als österreichischer Artillerieoffizier im Ersten Weltkrieg und die Anfänge seines architektonischen Bewusstseins in der Reaktion auf die Werke von Otto Wagner, Adolf Loos, Erich Mendelsohn, Louis Sullivan und Frank Lloyd Wright. Ebenso wie die Autobiografien von Sullivan und Wright konzentriert sich auch "Leben und Gestalt" auf Neutras frühe Jahre sowohl in Europa als auch in Amerika. Während er selbstverständlich seine Erinnerungen an so bekannte Aufträge wie das Lovell Health House (1929), sein eigenes Van der Leeuw Research House (1933) und das von Sternberg House (1935) wiedergibt, sinniert er auch über weniger bekannte Gebäude wie das kleine und heute so gut wie vergessene Mosk House (1933). In "Leben und Gestalt" zeigt sich auch Neutras Obsession mit der Vergänglichkeit der Zeit und seine feste Entschlossenheit, sie nie zu vergeuden. Wie Sullivan und Wright vermied es auch Neutra, eine reine Tatsachenchronik zu verfassen und konzipierte sein Buch - im Alter von 70 Jahren - stattdessen als Meditation über die Aspekte seines Lebens und Werks, die ihm am interessantesten und wichtigsten schienen. Er verspürte kein Bedürfnis, "alles mit einzuschließen", sondern strebte vielmehr eine ehrliche Wiedergabe seiner Erinnerung an sein eigenes Leben an. Beim Verfassen meines eigenen Buchs "Richard Neutra and the Search for Modern Architecture" (Oxford University Press 1982, Rizzoli Press 2006) habe ich mich immer dann auf "Leben und Gestalt" gestützt, wenn ich Neutras Erfahrungen in seiner eigenen authentischen Stimme wiedergeben wollte. Für künftige Generationen von Architekten, Historikern und Leser ist es gut, dass sie wieder da ist. - Thomas S. Hines, Forschungsprofessor für Geschichte und Architektur an der University of California in Los Angeles
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